Der letzte und längste Tag des Camino Primitivo bricht an und führt uns durch Unmengen an Regen, Stimmungsschwankungen, Matsch und Dörfer. Doch es gibt auch Lichtblicke und eine große Erleichterung – gefolgt von einer Katastrophe am Ende des Tages. Wie wir die letzten 48 Kilometer bis nach Santiago de Compostela gemeistert haben…
Der Wecker klingelt um 5 Uhr. Ich wache auf mit einem kurzen Gedankenblitz: Was haben wir uns nur gedacht gestern Abend? Ein Blick nach draußen auf die nasse Straße verrät, dass es ungemütlich wird. Wir machen uns fertig und packen unsere Sachen zusammen, ohne Frühstück und ohne Kaffee laufen wir mit unseren kleinen Powerbank-Leuchten noch im Dunkeln los. Bald schon fängt es an zu regnen.Wir laufen durch kleine Dörfer, verlassene Waldwege und an dunklen Zelten vorbei. Wieder überkommt mich der Gedanke, dass das jetzt die perfekte Gelegenheit für Massenmörder wäre, aber ich bin viel zu beschäftigt mit meinen Schritten, um Angst zu haben. Wir kommen noch im Dunkeln in Arzúa an, wo der Camino Norte zu den beiden anderen hinzukommt, und gehen in ein Café frühstücken. Es ist etwa 8 Uhr morgens und wir sind schon klatschnass. Wie der Tag wohl noch werden würde?Der Regen wird immer stärker und die Stadt ist voll von Pilgern, die fröhlich und munter in den Tag starten, während wir schon über zwei Stunden unterwegs sind. Es geht weiter im Starkregen, mit Poncho und ohne Motivation. Nach etwa 25 Kilometern leichtem Auf und Ab kommen wir völlig entnervt in O Pedrouzo an. Das Dorf zieht sich endlos hin. Wir gehen in einen Laden, um etwas zu essen und stellen entsetzt fest, dass die Küche zu hat. Oh Murphy, manchmal bist du echt gemein. Wir gehen ein paar Läden weiter, wo es zum Glück Essen gibt und machen eine längere Pause. Wir trocknen unsere nassen Klamotten notdürftig über den Stühlen und essen Burger und die wohl ekelhaftesten Kroketten, die ich je gegessen habe.
Obwohl ich am liebsten ewig vor der Heizung sitzen bleiben würde, ziehen wir die triefenden Klamotten wieder an und laufen noch eine Station weiter, bis etwa zehn oder zwölf Kilometer vor Santiago. Da der Regen nicht nach lässt und das Dorf uns kein Stück reizt, kann es eigentlich nicht noch schlimmer werden. Wir laufen in eine Art Waldgebiet rein, wo der Boden vom Regen aufgeweicht ist und die herabhängenden Baumblätter bedrohlich umherpeitschen. Irgendwann erreiche ich einen Punkt, an dem mir der Regen, die Kälte und die Nässe einfach egal werden. Ja, ich bekomme sogar gute Laune. Als hätte uns jemand beobachtet, laufen wir über eine Straße und ganz plötzlich hört es auf zu regnen. Über uns klafft eine große Wolkenlücke, durch die später sogar die Sonne herauskommt. Haben wir die Prüfung bestanden?Unser beider Motivation steigt – Ponchos aus, Sonnenschutz drauf und weiter geht’s! Wir erreichen endlich nach der größten Anstrengung der letzten Tage den 10-Kilometer-Stein direkt vor dem Flughafen von Santiago de Compostela. Dieser Meilenstein fühlt sich so gut an, dass wir bei strahlendem Sonnenschein und nach fast 35 Kilometern beschließen, noch heute nach Santiago zu laufen.
Wir durchqueren Lavacolla, wo wir ursprünglich übernachten wollten und machen eine kurze Pause bei einem Mercado. Bergab schlängelt sich der Weg entlang, während sich langsam die Wolken zuziehen. Die letzten Kilometer sind die reinste Katastrophe, denn es geht die ganze Zeit an geraden Asphaltstraßen entlang. Wie immer ziehen sich die letzten Kilometer endlos hin, vorbei an kleinen Häusern, einem Campingplatz, einer Fabrik und einem seltsamen Monument. Meine Füße brennen vom vielen Asphalt. Wir kommen an eine Treppe, die herunter zur Schnellstraße führt und sehen endlich in der Ferne die Stadt und die ersehnte Kathedrale. Wir laufen in einem Bogen um die Stadt herum und hinab an die Straße, kommen schließlich an das symbolische „Santiago de Camino“-Schild und hinterlassen einen symbolischen Sticker. Inzwischen zählen wir 45 Kilometer unter den Füßen und laufen ungeduldig und kaputt Richtung Stadtinneres. Alles tut unbeschreiblich weh, aber wir haben es so gut wie geschafft.Wir schauen uns auf dem Weg schon nach Herbergen um, doch keine sagt uns so richtig zu. Nach der dritten beschließen wir, uns für diesen letzten Weg etwas Besonderes zu gönnen und buchen Last Minute ein Apartment mitten in der Altstadt. Inzwischen ist es 19:30 Uhr und das Tourismusbüro hat längst zu. Dafür ist das Apartment in direkter Nähe zur Kathedrale und wirklich toll eingerichtet. Wir sind beide überglücklich, angekommen zu sein. Da es schon spät ist, beschließen wir – ganz untypisch Pilger – uns die Kathedrale und das offizielle Ende bis zum nächsten Tag aufzuheben. Wir laden unsere Sachen ab, stellen die Waschmaschine an, gehen einkaufen und duschen, kochen, genießen guten Wein, schalten den Fernseher an und lassen den Tag wirken. Endlich angekommen! Doch das will noch gar nicht in meinen Kopf hinein.Wir stoßen in einer Bar direkt um die Ecke auf den Sieg an. So viele Kilometer hinter uns und nun sind wir schon da. Das Gefühl ist unglaublich befremdlich. Man sagt, der Mensch braucht drei Wochen, um Gewohnheiten anzunehmen oder abzulegen. Ich habe nach zwölf Tagen schon das Gefühl, ich könnte gar nichts anderes tun als laufen. So unheimlich anstrengend es ist, so befreiend war es auch. In der Bar läuft tolle Jazz Musik und wir schauen uns einfach nur an, mit einer Mischung aus Erleichterung, Erschöpfung, Dankbarkeit, Stolz und Unsicherheit.
Dann dreht der Barmann den Fernseher laut und wir sehen, wie in Paris das Notre Dame brennt.
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