Eine neue Chance - Teil 2- Kurzgeschichte: Lesezeit ca. 15 Minuten -


Nach Schulschluss setzte ich mich in der Kantine mit meinem Tablett aus der Essensausgabe an den Tisch, an dem mein Bruder Theo saß. Er war vier Jahre älter als ich und stand kurz vor dem Abitur. 

Ich verstand, warum es nicht mehr zu seinem coolen Image passte, mit seiner kleinen Schwester in einer Hängematte in unserem Garten in den Nachthimmel zu starren, sich Sternbilder auszudenken, Kometen zu beobachten und Kirschen mit Schlagsahne zu naschen, während seine Freunde auf Partys tanzten, sich an Bier und Schnaps probierten und ihn auslachten, wenn er wieder auf mich aufpassen musste.

Trotzdem verletzte es mich, dass auch er seit dem Tod unserer Mutter zu denjenigen gehörte, die auf dem Pausenhof so taten, als sei ich eine Außerirdische. Theo gehörte in den Gängen auch zu denjenigen, die jüngeren Schülern die Schulbücher mit Absicht aus den Armen rissen, nur um sie zu verhöhnen. Wenn ich zu den Opfern gehörte, was dank meiner Körpergröße recht häufig vorkam, hielt Theo sich zwar im Hintergrund, half mir aber auch nicht, mich zu verteidigen. Es schien, als wäre die ganze Schule der Meinung, ich läge es darauf an, nicht dazuzugehören. Lag es daran, dass ich die anderen Mädchen ausnahmslos um eineinhalb Köpfe überragte? Daran, dass Papa mir kleine Glücksbotschaften auf Papierfetzen in die Recyclingpapiertüte zu meinem Pausenbrot legte, das er mit Gemüse aus seinem eigenen Garten belegt hatte? Oder konnten meine Mitschüler mich nicht leiden, weil ich das Mädchen mit dem komischen Namen und der toten Mutter war?

Theo grüßte nicht, als ich mich setzte, sondern schlang sein Erdnussbuttersandwich hinunter.

Meine Cornflakes weichten langsam in der Milchpfütze auf, die sich am Boden meiner Schale sammelte. Ich hatte keinen Appetit, schon gar nicht auf die pappigen Weizenstückchen, die es jeden Tag gab, weil die Kantine der Gesamtschule keinen großen Wert auf die gesundheitsbewusste Verköstigung ihrer Schüler legte.

„Isst du die noch?“ Theo sah mich zum ersten Mal an, seit ich mich gesetzt hatte, und nickte zu meiner Schale hin, während er den Rest seiner Limonade schlürfte. Ich schob ihm meine Schüssel hin.

„Da. Kannst du haben.“

Er nahm seinen Löffel und schaufelte auch den Rest meiner Portion in sich hinein. Er stand vom Tisch auf, ließ das dreckige Geschirr stehen, wo es eben stand, warf einen Apfel, ein paar lose Scheiben Toast, eine angebrochene Packung Kekse, eine halbleere Dose und eine Packung Erdnüsse zurück in seinen Schulrucksack. Ob seine Hefte neben dem ganzen Zeug überhaupt noch Platz hatten? Mussten sie wohl, denn sonst ließ sich nicht erklären, wie Theo in jedem seiner Kurse Klassenbester war.

„Wartest du auf mich?“, fragte ich und rutschte von meinem Hocker. Er rollte die Augen.

„Beeil dich.“

Mit meinen Büchern aus meinem Spind rannte ich ihm fünf Minuten später mit offenen Schnürsenkeln hinterher, während ich meinen Skizzenblock an die Brust drückte. Ich holte ihn ein, als er schon fast an unserer Haustür war.

„Warten sieht anders aus.“

„Warst eben zu langsam“, beschwerte er sich, sah mich aber nicht an.

„Was machst du heute Abend?“, wollte ich wissen. Im Gehen stopfte ich meinen Block in die Schultasche, ohne meine neuesten Kreationen zu zerknittern. Am Gesicht des Mädchens, das am Lagerfeuer saß und einen Kranz aus bunten Federn flocht, wollte ich noch weiter arbeiten.

„Geht dich nichts an.“

„Wir könnten Pfannkuchen machen. Mit den belgischen Schokostreuseln aus dem Supermarkt?“

„Mach sie dir allein.“

„Aber ich dachte…“

„Milla, nerv mich einfach nicht! Lern lieber“, raunzte er, steckte sich seine Kopfhörer mit Nachdruck in die Ohren, schloss unsere Haustür auf, warf seinen Rucksack auf die Turnschuhe, Sandalen und Gummistiefel im Flur und rauschte nach oben in sein Zimmer.

Aha. Daher wehte der Wind also. Irgendwie musste Theo mitbekommen haben, wie es um mich und meine Aufmerksamkeit im Unterricht stand.

Verletzt starrte ich eine Weile unbeweglich die Wand im Hausflur an.

Seit Mama nicht mehr bei uns war, wollte ich nichts lieber, als Zeit mit Theo zu verbringen. Ich kannte seinen Stundenplan auswendig, kannte die Namen und Adressen seiner besten Freunde, wusste, wann er normalerweise nach Hause kommen musste, selbst wenn er Umwege über den Wald, den See oder den Sportplatz nahm. Vielleicht hasste er mich und meine Träumereien deswegen so sehr: Weil ich immer wusste, was er tat. Weil ich ihn am liebsten kontrollierte und ausspionierte. Was er nicht wissen konnte, war, dass ich es tat, weil ich ihn liebte.

Er war alles, was ich hatte. Mein großer Bruder, der die Welt für mich bedeutete, auch wenn er mich behandelte, als sei ich nichts weiter als der dreckige Erdklumpen an den Sohlen seiner Turnschuhe. Es war mir egal. Solange ich wusste, dass es ihm noch gut ging, dass er noch bei mir war und zu mir zurückkommen würde, und sei es auch spät in der Nacht, solange war die Welt okay. Sie konnte sich weiterdrehen und ich konnte versuchen, ruhig zu schlafen. Mittlerweile war ich für ihn nur noch die kleine Schwester, die schrie, wo er schon lesen konnte, die mit Haferbrei um sich warf, wo er kultiviert mit Messer und Gabel hantierte, die im Unterricht einnickte, während er den Programmierpreis für den Informatikkurs gewann und mit der Medaille der Mathematikolympiade in die Zeitung kam. Ich vermisste die Stunden im Garten mit unseren Wolldecken und Daunenkissen unter selbstgebauten Tipis. Ich wollte mit ihm Erdbeeren pflücken, unsere Kartoffeln ernten, ihm zeigen, dass ich für ihn zum 18. Geburtstag ein riesiges Poster des Millennium Falken samt Chewbacca und Han Solo am Steuer gezeichnet hatte, weil er Star Wars so sehr liebte.

Nach zwei Stunden, die ich an die Decke starrend auf meinem Bett zugebracht hatte, stand ich auf und klopfte an seine Tür. Keine Antwort. Ich drückte die Klinke herunter.

Er saß am Schreibtisch, die Lampe eingeschaltet, raufte sich die Haare und hatte sich in ein Buch vertieft. Es sah nach englischer Grammatik aus. Auch nicht gerade meine Stärke.

„Was willst du, Milla?“

„Wollen wir zusammen in den Garten gehen? Wir könnten die Apfelblüten pflücken und pressen, für ein neues Sammelalbum? Oder ich zeige dir, was ich gezeichnet habe, weiß du, ich habe extra nur für dich…“

Weiter kam ich nicht. Er sprang hoch, schob mich grob zurück in den Flur, packte mich unsanft am Oberarm. Dann schleifte er mich zurück in mein Zimmer, bugsierte mich zum Bett, warf mir meinen Stapel Aufsatzhefte in den Schoß und sah mich böse an. Dann konnte er nicht mehr an sich halten.

„Hör endlich damit auf!“, schrie er. Keuchend wandte er sich von mir ab.

„Wir werden niemals auf einem Adler nach Bruchtal fliegen!“ Er riss mein Poster des elbischen Paradieses von der Wand über dem Schreibtisch. „Es gibt kein verdammtes Narnia!“ Mit den Fäusten hämmerte er gegen meinen Kleiderschrank, die Tür sprang auf und ein paar lose Shirts flatterten zu Boden. „Es gibt keine Zauberei!“ Er schnappte sich das Zauberstab-Sammlerstück, das ich mir von meinem ganzen Taschengeld in unserem Urlaub in London gekauft hatte, und brach das Holz entzwei. Seine Knöchel wurden weiß vor Anstrengung, so heftig entlud sich sein Zorn auf meine Habseligkeiten – auf meine Welt, die ich mir so mühsam errichtet hatte. Tränen standen mir in den Augen. Er schnaubte.

„Hör auf, in einer Welt zu leben, die es nicht gibt! Mama ist tot! Du kannst sie auch nicht dadurch zurückholen, dass du durch ein beschissenes Loch im Boden ins Wunderland reist!“

Die Tür zitterte, als er sie hinter sich ins Schloss knallte. Das gerahmte Foto von Mama und mir in unseren weißen und grünen Elbenkostümen, drei Faschingsfeste zuvor, landete auf dem Boden. Das Glas war gesplittert. Weinend glitt ich vom Bett und presste das Foto an meine Brust.

„Er meint es nicht so“, flüsterte ich Mama in ihrem glitzernden Gewand zu. „Bestimmt nicht. Er vermisst dich auch.“

Theo kam an diesem Abend nicht zum Essen nach unten. Papa sagte nichts, sondern stocherte lustlos in seinen Spaghetti mit Fleischbällchen, die ich von der Nachbarin bekommen hatte, die alt und schwerhörig war und keine eigenen Enkelkinder hatte, die sie mit ihren miserablen Kochkünsten beglücken konnte.

„Hast du keinen Hunger?“, fragte ich ihn kleinlaut.

„Nicht besonders.“ Er zog die Augenbrauen zusammen, was ihn immer wie einen traurigen Dackel aussehen ließ.

„Wir könnten ein Eis essen gehen“, sagte ich.

Er schien mich nicht zu hören, denn er schob den Teller von sich, stand auf und meinte, ohne mich anzusehen: „Ich drehe noch eine Runde. Du kannst dir was im Fernsehen ansehen, wenn du willst.“

Teil 2 dieser Kurzgeschichte endet hier. Im März wartet Teil 3 auf dich. Und bis dahin…

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