Eine neue Chance – Teil 3- Kurzgeschichte: Lesezeit ca. 20 Minuten -


Papa kam erst sehr spät nach Hause, aber daran, wie schwerfällig er die Haustür aufschloss und wie schlurfend seine Schritte klangen, als er seine Turnschuhe in die Ecke pfefferte, konnte ich hören, dass sein Spaziergang nicht nach seinem Geschmack verlaufen war.

Ich sah sein Gesicht genau vor mir, während die Geräusche aus der Küche mir verrieten, dass er sich eine Tiefkühl-Lasagne aus dem Eisfach zog, den Ofen anschaltete, die Plastikfolie von der Verpackung zog, den Mülleimer verfehlte und deswegen fluchte, und die Lasagne zu spät aus dem Herd nahm und noch mehr schimpfte, weil er nicht leiden konnte, wenn überbackener Käse braun und kross wurde. Ganz sicher waren seine Augen rot gerändert und so klein vor Müdigkeit, dass er gar nicht richtig sah, wie er die Gabel zum Mund hob, während er die verbrannte Nudel-Hackfleisch-Mischung in sich hineinschaufelte.

Am Ende dieser Abende stachen seine Bartstoppeln auf den Wangen immer hervor, weil er so blass und eingefallen wirkte. Während ich still und mit geschlossenen Augen unter meiner Decke lag und mir überlegte, wie ich ihn endlich wieder zum Lachen bringen konnte, spülte er den Teller, knüllte das Plastik in den Eimer und stampfte zum Treppenabsatz. Er lauschte an unseren Zimmertüren, das tat er immer. Er war ein guter Papa – er wollte, dass wir genug Schlaf bekamen und ausgeruht waren. Ich wusste, dass er sich für uns das Leben wünschte, das er mit Mama nie mehr haben würde. Ich sah es in seinem Blick, wenn er uns morgens Brote schmierte. Wenn er aus den selbstgezogenen Zucchini im Sommer gesunde Snacks zauberte. Ich merkte es, wenn er Theo bei den Hausaufgaben nicht helfen konnte, weil ihm die Tabellen und Zahlen und Formeln nichts sagten. Ich spürte es, wenn er mir über den Kopf strich und sich Mühe gab, mein Haar zu bürsten und es irgendwie zusammenzubinden, damit es aussah wie bei meinen Klassenkameradinnen. Natürlich scheiterte er kläglich, aber ich liebte ihn für seine Mühe. Theo weigerte sich, zu sehen, wie Papa sich kümmerte. Wie sehr er litt.

Papa hatte an meiner Tür offenbar nichts Verdächtiges wahrnehmen können. Er tappte zur Tür gegenüber und blieb dort eine Weile stehen. Theo war nicht da. Irgendwann quietschte die dritte Diele schräg vom Badezimmer. Dort würde Papa noch etwa fünf Minuten bleiben, ehe er sich in sein Zimmer verkroch und die halbe Nacht in Mamas Bildern wühlte, las und schlecht träumte. Ich sah das Licht, das unter seiner Tür hindurchsickerte, wenn ich nachts auf die Toilette ging oder wenn ich selbst nicht schlafen konnte. Einmal habe ich durch das Schlüsselloch gespäht, weil ich so neugierig war. Da hatte er nur dagestanden, in seinen übergroßen bunten Pyjamahosen, und hatte mit Mamas Farbpalette blaue und rote Klekse ohne Zusammenhang auf einer Leinwand verteilt und geweint.

Was genau Mamas Bilder eigentlich ausdrückten, habe ich noch nie verstanden. Sicher, sie waren irgendwie schön. Außerdem war ich ja selbst auf dem Weg dahin, Künstlerin zu werden, also sollte es mir doch leichtfallen, die Werke anderer Künstler zu interpretieren. Trotzdem lag es mir mehr, zu zeichnen, was ich sah oder mir vorstellen konnte, anstatt mit Pinsel und Acryl- oder Ölfarbe großflächige Leinwände zu gestalten.

Eines ihrer ersten Bilder (Papa sagte, damals kannte er sie noch gar nicht, sie muss also gerade um die zwanzig gewesen sein) hing immer noch in unserem Wohnzimmer über der durchgesessenen blauen Couch. Auf dem Bild konnte ich nichts weiter erkennen als einen unzusammenhängenden Wirbel aus Blau, Grau, Weiß, Schwarz und einigen helleren Tupfen. Darunter hatte sie eine dicke Schicht Modellierpaste gespachtelt, um einen plastischen Effekt zu erzielen – für mich sah das Ganze ziemlich wahllos aus. Trotzdem hatte sie mit diesem Bild ihren großen Durchbruch geschafft. Eine Galerie hatte sie unter Vertrag genommen. Sie malte im Auftrag, für Privatleute, für Architekten, für andere Künstler, Sammler, einmal sogar für ein kreolisches Restaurant, das sein ganzes Interieur ihren Bildern anpasste. Meistens rochen ihre Hände so sehr nach Farbpigmenten oder scharfen Bindemitteln, dass ich die Luft anhalten musste, wenn sie mir das Gesicht eincremte oder mir half, einen Pullover überzuziehen. Jetzt würde ich alles dafür geben, noch einmal diesen Duft einzuatmen.

Wir hatten ihr Malzimmer seit Jahren nicht ausgeräumt. Keiner von uns war bereit dazu. Wenn wir auch nur einen der Pinsel entsorgten, wäre das, als würden wir noch ein Stück von Mama aus unserem Leben direkt in die Restmülltonne entsorgen.

Theo kam auch nicht zum Frühstück. Die verschlossene Tür erinnerte mich daran, was er für hässliche Dinge zu mir gesagt hatte. Und es war seine Schuld, dass ich mit meinem Taschengeld einen neuen Rahmen für das Bild von Mama und mir kaufen gehen musste.

„Dein Bruder bleibt heute zu Hause“, sagte Papa, als ich mich zu ihm setzte. Seine Stoppeln sahen heute besonders kratzig aus. Auf dem T-Shirt, das er trug, hatte er einen Tomatenfleck.
Er blätterte die Zeitung um, ohne etwas zu lesen; er tat nur gerne so, als würde ihn der Wirtschaftsteil interessieren. Eigentlich mochte er die kleinen Comics am liebsten, die, die unter den Kreuzworträtseln standen und meistens so albern waren, dass sie keiner ernst nahm.
„Was hat er denn?“ Ich nahm mir ein Brötchen und verteilte Himbeermarmelade auf beide Hälften. Papa legte mir einen halben Apfel dazu, ohne zu fragen.
„Wenn ich das wüsste, wäre ich ein Hellseher und ich würde mein Geld damit verdienen, Leuten ihre Zukunft vorauszusagen, anstatt Tag für Tag Versicherungen an Menschen zu verkaufen, die sie gar nicht brauchen.“ Einer dieser trübseligen Tage also. Ich seufzte und biss in mein Brötchen.
„Wir müssen über die Schule reden“, sagte er dann. Ich verschluckte mich an der Marmelade. Irgendwie hatte ich gehofft, dass Frau Thormann es sich anders überlegen und nicht mit Papa telefonieren würde. Hatte sie denn gar kein Nachsehen mit mir?
„Dass du im Unterricht einschläfst, Milla, das geht nicht.“
„Ich habe es ja nicht mit Absicht gemacht.“
Papa seufzte und faltete seine Zeitung zusammen. Der Comic war heute wohl nicht sehr witzig.
„Das mag sein. Aber du musst versuchen, im Unterricht besser aufzupassen. Arbeite mit, wenn die Lehrer etwas fragen. Denk nach. Gib dir doch bitte Mühe, damit du diese Klassenstufe schaffst…Wenn du doch ein bisschen so fleißig sein könntest, wie dein Bruder, dann…“
„Du kannst mich nicht mit Theo vergleichen!“ Die Worte kamen heftiger aus meinem Mund als beabsichtigt. „Ich habe einfach andere Stärken, Papa! Ihm fällt Mathe vielleicht total leicht, er kann gut mit Chemie-Formeln umgehen und kapiert sofort, wie dieses Zeug mit der Zellmembran funktioniert, aber in meinem Kopf läuft es einfach anders ab.“
„Milla, wenn du jetzt versuchst, dich herauszureden…“
Wütend schob ich meinen Stuhl zurück und ballte die Hände zu Fäusten. Meine Wangen wurden rot, wie immer, wenn ich meine Wut zu kontrollieren versuchte.
„Ich rede mich nicht raus.“ Jetzt war meine Stimme gepresst und leise. Ruhe vor dem Orkan. Papa wusste es auch. Er stand ebenfalls auf und wollte mich in den Arm nehmen, aber ich wich zurück.
„Es reicht mir langsam“, sagte ich. „Immer sagst du, dass ich mehr wie er sein soll. Mehr wie mein toller Bruder, mehr wie ein Junge. Aber weißt du was? Ich bin eben ein Mädchen. Ich kann andere Sachen. Und außerdem bin ich nicht so eklig zu anderen Menschen wie Theo. Hat er dir erzählt, was er mit meinem Bild von Mama und mir gemacht hat? Was er zu mir gesagt hat? Wenn du wüsstest, wie er mit mir und den anderen redet, wenn du nicht dabei bist, würdest du ihn nicht immer so in den Himmel loben.“ Ich wollte es nicht, aber unkontrolliert zitternd stampfte ich mit dem Fuß auf.
„Du solltest dich mit ihm am Frühstückstisch streiten, statt mir Vorwürfe zu machen. Geschichte ist eben langweilig, wenn Frau Thormann die Klasse unterrichtet. Da versinke ich lieber in einen schönen Traum, da lerne ich mehr.“ Bevor Papa etwas sagen konnte, rannte ich die Treppe hoch, stopfte meine Schulsachen in den Rucksack, rauschte wieder runter, ignorierte meine Brotdose auf dem Tresen (auch wenn es heute besonders saftige Apfelmuffins und einen Schokoriegel gab), riss meine Jacke so heftig vom Haken, dass ich gleich einige Schals und Mützen im Flur verteilte, und dann knallte ich die Haustür hinter mir zu.

Meinen Schlüssel hatte ich auch vergessen. Aber das war mir jetzt egal. Ich rannte den ganzen Weg bis zur Schule, so schnell, dass ich noch röter, heftig schnaubend und verschwitzt in der Klasse ankam. Niemand sprach mit mir. Das war mir nur recht. Hätte mich jetzt jemand gefragt, was mit mir los sei, ich glaube, ich hätte meine Wut nicht mehr zurückhalten können. Und für Prügeleien im Klassenzimmer gab es nicht nur einen Elternanruf, sondern einen Verweis, Nachsitzen und eine ernsthafte Diskussion darüber, ob man gewalttätige Kinder nicht auf eine andere, besonders auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete Schule schicken müsste; dorthin, wo sie all die Kinder steckten, denen sie, die Erwachsenen, nicht zuhören wollten.

Der Tag rauschte irgendwie an mir vorbei. Ich erinnere mich nicht daran, was in Bio oder Chemie, geschweige denn in Wirtschaftskunde auf dem Plan stand, denn die meiste Zeit verharrte ich, den Kopf in meine Hände gestützt, über den aufgeschlagenen Lehrbüchern und überlegte mir, wie ich es schaffen konnte, Papa und Theo aus dem Weg zu gehen.

Bei Schulschluss war ich so hungrig, dass es wehtat. Doch mein Frust und mein Ärger über die Männer in meinem Leben waren größer. Also stapfte ich mit meinem Rucksack ziellos durch die Straßen, vorbei an unserem Haus, in die Innenstadt und wieder hinaus. Einmal hupte mich ein Autofahrer an, weil ich kopflos über eine rote Fußgängerampel lief und meine Turnschuhe beobachtete, anstatt auf den Verkehr zu achten. Mein schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen, während der Fahrer mir mit einer fiesen Geste drohte und etwas rief, das ich zum Glück nicht hören konnte. Ich glaube nicht, dass ich ihm besonders nett geantwortet hätte.

Der Duft von Pizza wehte mir in die Nase. Ohne es zu bemerken war ich vor einer Imbissbude angehalten, die in einem Viertel lag, in das Papa mich nie alleine gehen ließ. Ich lächelte zufrieden. Hier würde er mich sicher nicht finden. In meinem Rucksack fand ich ein bisschen Kleingeld und kaufte mir ein Stück Pizza mit Pilzen und Käse. Der Mann hinter der Theke, ein ziemlich dünner Italiener mit Schnurrbart und fleckiger Schürze, gab mir mein Rückgeld und schaute mich finster an.
„Und du bist sicher, dass du schon alleine hier unterwegs sein darfst?“ Sein Akzent verzerrte seine Stimme so stark, dass ich ihn kaum verstand, doch seine Mimik sagte mir genug.
„Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.“
„Bist du auch zu anderen Menschen so frech?“
„Das geht Sie nichts an. Außerdem habe ich gerade Pizza von Ihnen gekauft, was kümmert es Sie also?“
Ich drehte mich zur Tür und wollte gehen, da sah ich, dass es draußen zu schütten angefangen hatte. Riesige Pfützen verteilten sich auf den Gehwegen. Missmutig starrte ich auf den schmelzenden Käse auf dem Stückchen Pappe, auf dem meine Pizza thronte. Wenn ich jetzt wieder durch die Straßen zog, hätte ich in kürzester Zeit eher einen Pizza-Shake in der Hand. Und nasse Socken noch dazu. Turnschuhe waren nicht gemacht für dieses Wetter.
Der Italiener beobachtete mich immer noch wachsam.
„Setz dich und iss“, raunzte er und ruckte mit seinem Kopf in Richtung der weißen Plastiktische. Die rot und weiß karierten Plastikservietten und die Bänke um die Tische sahen nicht sehr verlockend aus, aber ich setzte mich trotzdem. Die Pizza schmeckte deutlich besser als vermutet. Während ich aß und sich der Italiener seinem italienischen Fernsehprogramm irgendwo hinter seiner Theke zuwandte, zog ich meinen Skizzenblock zwischen meinen Schulheften hervor.
Ich wusste: Es würde mir helfen, einen Bleistift hervorzuziehen und zu zeichnen, damit ich wieder auf bessere Gedanken kam. Den Rest Pizzarand legte ich auf meinen Pappteller, wischte mir die Hände an meiner Hose sauber und schloss die Augen.
Sofort sah ich sie wieder, diese Gestalt in schwarz, die vor dem Feuerschein hockte und den Blick panisch hob.

Hufe näherten sich, Hufe eines Pferdes oder Kamels, es rannte, rannte so schnell, dass es sie jede Sekunde erreichen musste. Unter ihrem Gewand blitzte eine Dolchspitze hervor, sie hob ihren bewaffneten Arm und zog den Schleier vom Gesicht –
„Lass die Waffe fallen, Mädchen.“ Sie hatte ihn nicht bemerkt, den Mann, der hinter ihr auftauchte wie ein lautloser Schatten. Sie spürte die scharfe Klinge eines Messers im Nacken. Sofort öffnete sie ihre Faust, ihr Dolch landete im Sand. Das Hufgetrappel verstummte, Stiefel landeten im Sand, als ein zweiter Mann abstieg und sich ihnen näherte. Die Flammen des Feuers erstarben langsam im Wind der Nacht.  

„Wen haben wir hier?“ Er trat direkt auf sie zu, in einen dunkelblauen Umhang gehüllt, Tücher um den Kopf geschlungen, zum Schutz vor dem Sturm bis über den Mund gezogen, sodass seine Stimme gedämpft klang. Sie erkannte ungewöhnlich helle Augen, die nicht zu ihm zu passen schienen. Ein ungewohnter Geruch ging von ihm aus, Kamelhaar gemischt mit bitterem Rauch und etwas, das zu exotisch war, als dass sie es hätte benennen können. Ein Öl vielleicht?
Der andere hinter ihr verstärkte den Druck der Klinge an ihrem Hals, als sie sich bewegen wollte. Er griff nach ihren Handgelenken.
Sie ließ es geschehen, denn sie wusste, dass sie gegen diese beiden Männer keine Chance hatte. Sie waren Männer der Wüste, gehörten einem Volk an, das sie nicht kannte. Und sie hatte auf ihrer Flucht gelernt, sich vor Fremden zu hüten, deren Macht sie noch nicht abschätzen konnte…
„Nehmen wir sie mit.“ Das war der Mann hinter ihr. Sein Schatten hatte so riesige Umrisse, er musste sie um mindestens vier Köpfe überragen.
Die Hand des Reiters griff nach ihrem Kinn und drückte ihren Nacken nach hinten.
„Schön bist du, Mädchen. Von wo kommst du?“
Sie sah ihm direkt in diese hellen Augen. Dann spuckte sie ihm ins Gesicht.
Schmerz. Ein Stechen. Dann wurde alles schwarz.  

Das ist gut, dachte ich, vollkommen versunken in der Welt, die ich mir meiner Fantasie errichtete. Langsam traten klarere Gesichter hervor: hier die hellen Augen des Entführers auf seinem Kamel, dort der andere Mann mit der Klinge, die Gewänder schraffierte ich tief schwarz. Ich hielt mich eine Weile mit dem Haar des Mädchens auf, das unter dem Tuch hervorlugte, eine sanfte Strähne über ihrer Stirn. Dann zeichnete ich, wie die Männer sie auf ihre Kamele zerrten, während sie sich wehrte, kraftvoll und mutig. Ich arbeitete verbissen daran, dass die Stärke des Mädchens in jeder ihrer Bewegungen auf dem Papier zu erkennen war. Ich vergaß die Zeit.

Als ich auf dem Ende meines Bleistifts herumkaute und nach dem Anspitzer greifen wollte, merkte ich, dass sich der Italiener zu mir an den Tisch gesetzt hatte.

„Du zeichnest sehr schön“, sagte er lächelnd. Seine ruppige Art war verschwunden, jetzt sprach echtes Interesse aus seinem Blick. Ein Mehlfleck klebte an seiner Wange, die Hände waren groß und kräftig, vermutlich, weil er den ganzen Tag Pizzateig knetete. Ich mochte seine karierte Schürze, die er jetzt an einen Haken neben seinem Verkaufstresen gehängt hatte.

Er schob mir ein Glas Limonade hin, außerdem eine Schale mit Tiramisu. „Ich schließe jetzt. Aber du kannst deine Limonade und das Dessert in Ruhe essen, wenn du willst. Das geht aufs Haus.“

Blinzelnd schaute ich ihn an, ein wenig verlegen, weil ich seit Stunden in seinem Lokal saß und so gemein zu ihm gewesen war.

„Es tut mir leid, dass ich vorhin so unfreundlich zu Ihnen war“, sagte ich kleinlaut.

„Keine Sorge, Mädchen. Wie heißt du?“, wollte er wissen.

Die Limonade schmeckte herrlich. Ich trank einen großen Schluck und schnappte mir dann den Löffel für den Nachtisch.

„Milla“, mampfte ich mit vollem Mund. „Und wie heißen Sie?“

Er lehnte sich zurück, offenbar sehr zufrieden damit, dass mir sein Essen schmeckte. „Mein Name ist Tommaso Michele Bruni. Du kannst Tommi zu mir sagen, wenn du willst.“

„Danke für das Essen, Tommi.“

„Und warum bist du den ganzen Tag hier so alleine, Milla?“

„Mir war nach einem ruhigen Ort zum Zeichnen“, antwortete ich. Mein Löffel klapperte leise gegen die Glasschale, während ich die Sahnereste einsammelte.

„Das verstehe ich gut.“ Er verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich gegen die Fensterscheibe. Draußen regnete es noch immer heftig, sogar etwas Hagel rutschte auf der Straße hin und her. „Wenn mir alles ein bisschen zu viel wird, gehe ich in meine Küche und koche. Eine gute Pasta, ein frisches Brot, manchmal Saucen, und wenn ich wirklich eine Auszeit brauche, mache ich eine deftige Lasagne. Wir sind uns also ein bisschen ähnlich, nicht wahr?“

Ich musste lächeln. „Du meinst, das Kochen ist für dich wie das Zeichnen für mich?“

„Richtig, Milla. Möchtest du mir erzählen, wovon du heute eine Auszeit gebraucht hast?“

Ohne dass ich es kontrollieren konnte oder genau verstand, warum mir dieser Italiener plötzlich wie ein langjähriger Freund vorkam, erzählte ich ihm alles. Von Papa und seiner Traurigkeit, Theo und dem kaputten Bilderrahmen, Mama in ihren Kostümen, Mama mit ihren Bildern, meiner Träumerei in der Schule, die Strafe von Frau Thormann. Es prasselte aus mir heraus wie der Regen auf den Asphalt. Als ich meinen Mund schloss und den letzten Rest Limonade austrank, hatte Tommi seine Hände flach auf den Tisch gelegt. Ich hatte noch nie einen Erwachsenen kennengelernt, der mich nicht ein einziges Mal unterbrochen hatte, während ich mir all meine Gedanken von der Seele sprach.

Er sah mich eine ganze Minute lang an. Dann breitete sich ein liebevolles Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er legte die Stirn in Falten.

„Manchmal“, begann er, „sind die Menschen sehr schwierig. Ich glaube es liegt daran, dass sie zeitweise vergessen, was sie glücklich macht. Sie können nicht mehr erkennen, was ihnen einmal Freude bereitet hat, sie wissen nicht, wie man Spaß hat. Manche Menschen denken nämlich, dass sie den Spaß nicht mehr verdienen, wenn ihnen etwas Schlimmes zugestoßen ist. Deine Mama, Milla, scheint eine tolle Frau gewesen zu sein.“

„Das war sie. Sie war immer für uns da, lieb, witzig, sie hat immer gestrahlt und…“ Ich hatte einen Kloß im Hals. „Ein bisschen wie eine Sonne. Unser Leben hat sich um sie herum bewegt.“

„Deine Mama war sozusagen euer Mittelpunkt“, überlegte Tommi. „Was passiert, wenn man den Menschen ihren Mittelpunkt nimmt?“

„Sie fallen aus der Balance?“

„Richtig. Sie kippen nach rechts oder links, stolpern und fallen manchmal sogar ziemlich schwer auf die Nase. Für diese Menschen ist es dann nicht einfach, wieder aufzustehen. Kannst du das nachvollziehen?“

Ich nickte heftig. Tommis Worte berührten mich, ich klammerte mich an ihnen fest.

„Du scheinst mir ein sehr starkes, kluges Mädchen zu sein, Milla. So wie deine Figur hier.“ Er tippte auf das Mädchen aus meiner Wüstengeschichte. Ob ich mich selbst in diesem Umhang sah, einen Dolch gegen Kräfte erhoben, die auf den ersten Blick viel mächtiger waren als ich? Ob dieser Mut auch in mir steckte?

„Vielleicht“, meinte ich.

„Da bin ich mir sogar sicher. Vergiss für einen Moment, was deine Lehrerin sagt, was dein Vater meint, wie gemein dein Bruder war. Denke nur darüber nach: Siehst du dich vielleicht selbst in diesem Mädchen aus deiner Zeichnung?“

Wir schwiegen. Das weiße Neonlicht über dem Pizzatresen warf krumme Schatten auf den Linoleumboden.

„Okay“, sagte ich schließlich. „Vielleicht stimmt es.“

Tommi nickte wissend. „Es stimmt ganz sicher. Und jetzt verrate ich dir ein Geheimnis.“

Ich liebte Geheimnisse. Sofort beugte ich mich weit nach vorne und neigte meinen Kopf; obwohl wie alleine waren, schien es mir nur richtig, dass Geheimnisse nur in der richtigen verschwörerischen Stimmung ausgetauscht werden durften.

„Du kannst ihnen helfen, die Balance zurückzugewinnen. Du kannst nicht nur, du musst! Hilf deinem Papa und deinem Bruder, bringe ihnen ihre Vorstellungskraft zurück. Hilf ihnen zu sehen, was du siehst. Sie haben verloren, was du tief in dir bewahren konntest. Mache ihre Welt wieder ein bisschen magischer.“

„Das soll ich können? Aber wie?“

Begierig darauf, mehr über die unvorstellbaren Kräfte dieses italienischen Pizzabäckers zu erfahren, ballte ich die Hände zu Fäusten und verkrampfte mein Gesicht, die Augen weit aufgerissen. Da lachte Tommi plötzlich. Er nahm einen meiner Bleistifte, öffnete sanft meine Faust, legte den Stift hinein, schloss meine Finger wieder und sah mich an.

„Damit, Milla. Nur damit.“

Teil 3 dieser Kurzgeschichte endet hier. Im Mai wartet Teil 4 mit dem Ende der Geschichte auf dich. Und bis dahin…

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