Am Freitag hatte Papa eine wichtige Besprechung, er wollte erst spät nach Hause kommen; Theo war nach der Schule mit Freunden verabredet. Was sie trieben, wollte ich gar nicht wissen. Es kam mir gelegen, dass ich das ganze Haus für mich hatte. Kaum dass es nur ersten Stunde klingelte und sich der Pausenhof leerte, machte ich kehrt und rannte zurück nach Hause.
Es würde sowieso niemand bei Papa anrufen, denn wenn er wichtige Kundentermine hatte, ging er nur an sein Handy, wenn wir ihn anriefen. Ich sperrte unsere Haustür auf und schloss hinter mir wieder ab. Es war seltsam ruhig, die Stille machte sich als nervöses Kribbeln in mir breit.
Zuerst schnappte ich mir Eimer, Lappen, Seife und den Staubsauger. Es dauerte mehrere Stunden, bis ich den Fußboden gewischt, die Küche geschrubbt und aufgeräumt, sämtliche Einmachgläser verstaubt, den Flur gefegt, das ganze Haus gesaugt, die Wäsche gewaschen, alle Badezimmer auf Hochglanz gebracht und sogar die Holzkommode in Papas Schlafzimmer poliert hatte. Dann machte ich mich an das Herzstück meiner Arbeit.
Alle Jacken und Mäntel verstaute ich in einer der Kisten auf dem Dachboden, um im Flur Platz schaffen. Mit Hilfe einer kleinen Leiter drapierte ich bunte Lampions, Kerzenlichter und eine Lichterkette mit winzigen Sternen im Flur. In der Küche verteilte ich Erdnüsse, Cracker und Weintrauben in Schalen auf der Anrichte, dann klebte ich Hinweisschilder an die Wände, die zum Wohnbereich führten. Den Sessel und die Couch hatte ich eng zusammen in die Mitte des Raumes geschoben, wie die Sitzgruppe in einem Museumsgang. So hatte ich Platz an den Wänden. Abwechselnd hängte ich jeden Zentimeter voll: erst die Bilder meiner Wüstengeschichte, eine Zeichnung nach der anderen, sorgsam in der richtigen Reihenfolge beschriftet. Neben jeden Abschnitt der Geschichte hängte ich eines von Mamas Bildern. Mal ein riesiger, schwarzer Fleck, gesprenkelt von Weiß und Silber, dann eine einsame Mondlandschaft, Eisberge, rote Farbklekse umringt von grauen Flächen, geometrische Muster ohne Zusammenhang, dann eine wilde Landschaft, die eine afrikanische Savanne darstellen könnte. Ich folgte keinem Schema, während ich die Bilder anordnete. Vielmehr entschied ich aus dem Bauch heraus, überlegte, welches Bild von Mama die Emotionen meiner Geschichte widerspiegelten.
Zufrieden mit dem Wohnzimmer machte ich auf dem Treppenabsatz weiter: Auf jeder Stufe fand eine weitere meiner Zeichnungen Platz, Elfen, Feen, Raumschiffe, Bäume, Tiger in einem Palast, ein Frosch auf einem Seerosenblatt, dieses Mal flankiert von Fotos, die Mama von uns als Familie gemacht hatte. Da waren Papa und Theo beim Ballspiel, Theo und ich mit einer riesigen Eistüte, jeder schleckte an seiner Seite; Mama und Papa Hand in Hand am Meer, ich auf Papas Schultern an einem See, wir alle gemeinsam in der Küche, während wir Spaghetti kochten und einen riesigen Soßenfleck an die Wand gespritzt hatten.
Auf dem Flur klebte ich Pfeile zu Papas Zimmer. Das Bett hatte ich abgezogen. Stattdessen drapierte ich jeden einzelnen von Mamas Pinseln so, dass ein riesiges Mosaik auf der Matratze entstand. Einige offene Farbdosen stellte ich auf die Fensterbank. Daneben die Staffelei mit einer frischen, weißen Leinwand, so groß, dass ich sie kaum durch die Tür tragen konnte.
Um kurz nach vier am Nachmittag schmierte ich mir eine Scheibe Brot, rannte zum Blumenladen und kaufte einen riesigen Strauß Lilien, Federnelken, gelbe Tulpen, Eukalyptus und Astern von einem sehr großen Teil meines Taschengelds. Zurück im Haus verteilte ich die einzelnen Blumen in den fleckigen Wasser- und Marmeladengläsern, die Mama für ihr Pinselwasser benutzt hatte. Ich hängte eins von Mamas Kleidern, das bodenlange rote mit den Tupfen in Gelb, auf einen Bügel an der Außenseite der Badezimmertür. Ihre Ringe, Perlenketten, das Holzarmband, das sie von ihrer ersten Reise mit Papa aus Zakynthos mitgebracht hatte, glitzernde Ohrhänger und einen Zehenring arrangierte ich in einer ausladenden glasierten Schale auf einem Beistelltisch in der Küche. Dann kamen ihre Lieblingsbücher an die Reihe, aufgeschlagen an den Textstellen, die sie mit Klebezettelchen markiert hatte, um sie später noch einmal lesen zu können: Der große Gatsby, In 80 Tagen um die Welt, Wuthering Heights, Der alte Mann und das Meer, Wir Kinder aus Bullerbü, ein norwegischer Krimi, dessen Titel ich nicht entziffern konnte, italienische Kochbücher und ein Gedichtband aus Persien.
Papas alten Plattenspieler wuchtete ich nach unten, schaltete ihn ein und suchte mir aus der Sammlung hinter der Tür die Musik aus, die Mama immer gehört hatte, wenn sie malte: Aretha Franklin, Tony Bennett, manchmal ein klassisches Stück von Schubert. Draußen wurde es dunkel. Ich schaltete die Lichterkette ein und zündete alle Kerzen im Haus an. Im Garten fand ich noch etwas flüssigen Anzünder für die Fackeln, die am Rand der Beete standen, die wir aber seit Monaten nicht mehr benutzt hatten. Mama hatte es geliebt, in die Flammen zu starren und sich auszumalen, welcher Inspirationsfunken auf sie überfliegen würde.
Die Lilienblüten warfen lange Schatten über die Bilder an den Wänden, umrahmt von den ausladenden Blättern der Tulpen. Mir war mulmig zu Mute, als ich mein Werk betrachtete, und meine Hände zitterten.
Um kurz nach halb sieben klebte ich ein blaugraues Tonpapier, in Blütenform geschnitten, an unsere Haustür: M.M. Vernissage – Reich der Magie.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Sie kamen zusammen, offenbar hatte Papa meinen Bruder abgeholt, wo immer er sich herumgetrieben hatte. Mit einem Tablett auf dem Unterarm stand ich im Flur, darauf zwei goldene Eintrittskarten, eine für Papa und eine für Theo. Daneben für jeden von uns eine Schokoladenpraline.
„Was ist hier denn los?“ Papas Stimme klang erstaunt. Er riss die Augen auf, als er den in schummriges Licht getauchten Flur sah, das Kerzenlicht, mein Lächeln.
„Papa, was ist denn?“
Theo schob sich an ihm vorbei ins Haus. Sein Rucksack plumpste von seinen Schultern auf den Boden.
„Willkommen im Reich der Magie!“, sagte ich, kam auf die beiden zu, und ehe sie etwas erwidern oder es sich anders überlegen konnten, drückte ich ihnen die Karten und die Pralinen in die Hände, schloss die Tür ab, nahm ihre Jacken und machte eine ausladende Bewegung in Richtung Küche. Papa drehte seine Karte in den Händen und sah mich fragend an, doch Theo rollte die Augen.
„Milla, was soll der Blödsinn? Lass mich durch, ich muss Hausaufgaben machen. Für deine blöden Spiele habe ich heute wirklich keine…“ Er hatte sich an mir vorbeigedrängelt, doch als er die Küche betrat und sah, was ich vorbereitet hatte, verschlug es ihm die Sprache.
„Bitte“, flüsterte ich. „Bitte hört mir zu.“
Papa, der immer noch nicht zu wissen schien, wie er reagieren sollte, nahm meine ausgestreckte Hand und ließ sich in die Küche ziehen.
„Was ist das hier?“
„Das hier ist mein Geschenk für euch“, erklärte ich bestimmt. „Eine Reise in eine Welt, die ihr vergessen habt. Und ein Geschenk für Mama. Damit wir sie noch einmal so feiern können, wie sie es verdient hat.“
Theo und Papa tauschten einen Blick. Dann sah ich, dass mein Bruder weinte, wirklich weinte. Als wäre ein Damm in ihm gebrochen, rannen ihm die Tränen über die Wangen; fast sah es komisch aus, wie er in mitten der dekorierten Küche stand, mit seinen weiten Hosen, die Baseballcap in den Händen drehend, seine Haare ungekämmt, ein Loch in seinem T-Shirt. Doch ich lachte nicht. Das war mein großer Bruder. Lange hatte ich ihn nicht mehr so gesehen. Unsicher kam er einen Schritt auf mich zu und legte die Mütze zur Seite.
„Milla“, sagte er mit leiser, belegter Stimme. „Es tut mir ehrlich leid. Alles. Ich vermisse sie doch auch.“ Dann hielten wir uns in den Armen, mein Kopf direkt unter seinem Kinn. Einen Moment später fühlte ich, dass Papa uns an sich drückte und schniefte.
Meine Ausstellungsbesucher genossen den Rundgang durch das Haus. Wir aßen Trauben und Nüsse und Fladenbrot, lachten und weinten, wenn wir Mamas Bilder betrachteten. Sie hörten zu, wenn ich meine Zeichnungen erklärte. Theo liebte die Wüstengeschichte und bestand darauf, sie ein zweites Mal zu hören. Im Hintergrund sang Aretha Franklin nur für uns, die Flammen im Garten zündelten in den Nachthimmel. Wir staffierten uns alle mit Mamas Schmuck aus, Theo behängte sich mit den Perlenketten, während ihre Ringe an meinen Fingern glitzerten. Papa nahm Mamas Kleid vom Bügel, zog es sich über und wir bogen uns vor Lachen. Aneinander gekuschelt lasen wir uns ihre Lieblingsbücher vor, bewunderten das Kunstwerk, das ich aus ihren Pinseln gebaut hatte, schwiegen zusammen, blätterten durch Fotoalben, hielten uns so lange fest, bis wir wieder atmen konnten.
Es war sehr spät, als wir zu dritt vor der leeren Leinwand standen. Wir hielten Pinsel und Farben in den Händen.
„Wir haben nie zusammen gemalt, als Mama noch hier war“, sagte Theo.
„Und jetzt?“, fragte Papa.
„Jetzt“, sagte ich sehr ernst, „füllen wir das Weiß mit unserem eigenen Reich der Magie. Lasst uns ein Bild malen, auf das Mama stolz sein würde.“
Korallenrot und Gletscherblau, Indigo und Violett, Aztekengold und Azur und Topas und Seegrün, Jade und Senfgelb und Mokka und Kupfer, der Farbwirbel wurde immer größer. Wir malten und pinselten, bis nicht mehr nur die Leinwand, die Tapete und der Boden eine ordentliche Schicht Farbe abbekommen hatten, sondern auch unsere Hände, Gesichter, Haare und der Bettrahmen. Irgendwann ließen wir die Pinsel fallen und stürzten uns auf Papa, piekten ihn, bis er einen Lachkrampf bekam und sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Irgendwann wurden wir sehr still. Die Musik war verstummt. Im Haus war es ganz ruhig. Der Geruch verloschener Kerzen mischte sich mit dem der Farben. Der erste Tupfen Sonnenschein drang durch das Fenster herein. Die Perlen um den Hals meines Bruders klingelten, als er sich Papa und mir zuwandte.
„Ich habe Hunger“, verkündete er. Papa nickte.
„Ich kenne da einen tollen Pizzabäcker“, antwortete ich lächelnd.
Hier endet die Kurzgeschichte um Milla. Ich hoffe, dass sie dir gefallen hat!
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Eine schöne und sehr gefühlvolle Geschichte!
Vielen lieben Dank für deine Worte! Wie schön, dass dir die Geschichte gefallen hat.