Der Ort meiner Erkenntnis, dass ein Ort allein einen Menschen niemals glücklich machen kann, liegt nur zwei Flugstunden von meiner Heimatstadt Hamburg entfernt. Ich war für einige Tage zu Besuch bei einer Freundin in Wales, die dort für ein Jahr als Lehrerin arbeitete.
Wir saßen gerade nach einem langen Spaziergang an der Küste, es war ein toller lauer Frühlingstag im Mai, die Sonne strahlte vom Himmel und wir hatten sogar noch eine Vanille-Cookies-Eis ergattern können, als uns ein Mädel auf Deutsch ansprach. Wir unterhielten uns kurz und sie erzählte, dass sie ebenfalls für ein paar Monate hergezogen sei, aber mit ihrer Wahl offensichtlich sehr viel unzufriedener als meine Freundin war. „Was gefällt dir denn hier nicht?“, fragten wir und es folgte eine Reihe von Argumenten, die sich vor allem darum drehten, dass hier ja nichts los sei, man nichts machen könne, etc.Meine Freundin, ohnehin ein ziemlich positiver und optimistischer Mensch, versuchte sie aufzuheitern: „Aber guck doch mal, wie schön es hier ist, die Natur … und das Meer.“ Aber unsere neue Bekanntschaft antwortet nur: „Ach, hier ist doch sowieso immer nur Ebbe.“
Liebe Unbekannte,
vielen Dank an dieser Stelle für die wertvollen Erkenntnisse, die du mir mit diesem so unüberlegten Satz geschenkt hast!
Zwar bin ich auf meinen Reisen immer wieder Menschen begegnet, die all das, was sie in der Ferne vorfanden, langweilig, blöd und scheiße fanden. Besonders häufig passierte mir das dort, wo es viel Natur und wenige Sehenswürdigkeiten gab, zum Beispiel im Tongariro National Park in Neuseeland („Hier kann man ja nur wandern“), in der endlosen Weite Schwedisch-Lapplands („Und was soll ich hier?“) und an der Westküste Australiens („Ich betrink mich dann mal, sonst geht hier ja gar nichts“)
Aber keiner, wirklich keiner von denen, hat es so toll auf den Punkt gebracht, wie du.
„Hier ist doch sowieso immer nur Ebbe.“
Weißt du, was ich glaube? Ich denke der Unterschied zwischen dir und uns an diesem Tag war: Wenn da wirklich immer Ebbe gewesen wäre, dann hätten wir eine Wattwanderung gemacht. Du nicht.
Aber ich will ehrlich sein: Manchmal überkommt es auf meinen Reisen auch mich, dass ich mich frage: Was mach ich hier eigentlich? Wenn ich zum dritten Mal in einem Monat krank werde, weil mich die einheimischen Bakterien umhauen. Wenn den dritten Tag in Folge braune Soße aus dem Wasserhahn läuft. Oder sie im Club gegenüber schon wieder Party machen (was für mich mindestens ebenso tödlich ist wie für dich die Ruhe der Natur). Das kann mir schon mal echt auf die Stimmung schlagen.Aber dank dir stelle ich mir seit unserem Treffen dann immer eine Frage: „Ist hier wirklich immer nur Ebbe?“ Und die Antwort darauf lautet immer: Nein.
Deshalb nochmal: Danke! So schlimm (wie auch ich manchmal glaube, wenn es mir nicht gut geht) kann ein Ort allein nämlich gar nicht sein.
Gerade wohne ich übrigens in der Karibik – das klingt traumhaft und ist es auch. Denn ja, hier scheint meistens die Sonne, der Himmel ist fast immer blau und das Wasser türkisgrün. Aber trotzdem, kann ich dir sagen, ist auch hier nicht automatisch immer Flut.
Logisch, denn in all deiner Unbedachtheit hast du es uns ja so schön vor Augen geführt: Ebbe ohne Flut geht nämlich gar nicht.
Deshalb wollte ich nur noch kurz hinzufügen: Flut ohne Ebbe eben auch nicht.