Gerade zu Beginn eines neuen Jahres genieße ich es, Ruhe und Stille zu finden. In mich zu gehen, nachzudenken, vielleicht auch einfach nur zu sein. Wenn wir es uns erlauben, leise zu werden und ohne Wertung zu beobachten, was in unseren Köpfen vorgeht, finden wir manchmal Antworten auf Fragen, die uns schon lange geplagt haben. In Thüringens Hauptstadt Erfurt habe ich drei Tage verbracht und habe drei Orte entdeckt, die mir geholfen haben, ruhiger und gelassener zu werden.
Der Kern von Erfurt und Ausgangspunkt vieler Reisender ist sicherlich die malerische, mittelalterlich geprägte Altstadt. Von allen Seiten ragen barocke und gotische Kirchen, Fachwerk- und Handelshäuser und Bauwerke im Stil der Renaissance empor.Die Eindrücke sind gewaltig, die Vielfalt fast schon erschlagend. Dabei gibt es inmitten des Trubels einen Ort, den ich eher zufällig entdeckt habe.
In Gedanken versunken schlendere ich von meinem Apartment Junger Moritz aus durch die Augustinerstraße, will mich absetzen vom Gewimmel des Weihnachtsmarkts auf dem Domplatz, von den Massen auf der Krämerbrücke.
Nach wenigen Schritten lenkt die in der Sonne hell leuchtende Fassade meine Aufmerksamkeit auf sich: Feine Rundbögen, Buntglasfenster, die unverwechselbare Stille eines Klosters. Niemand ist zu sehen. Ich bin ganz allein. Im Inneren des Augustinerklosters ist es kühl, aber angenehm. Eine einzelne Kerze brennt auf dem Altar, die Sonne scheint durch das berühmte Löwen- und Papagaienfenster mit der Lutherrose, schillernde Lichtflecken auf den Steinen. Wer diese Fenster gemacht hat, ist ein wahrer Meister, denke ich.
Erbaut 1277 als Kloster der Augustiner-Eremiten, lebte Martin Luther zwischen 1505 und 1511 in diesem Kloster, erfahre ich auf einer Informationstafel. Im Zweiten Weltkrieg bei den Luftangriffen auf Erfurt litt auch das Augustinerkloster unter der Zerstörung, heute ist das Kloster vor allem ein Tagungs- und Begegnungszentrum. Ich bin dankbar, dass ich heute nur mir selbst in der Stille begegne.
Nachdem ich das Kloster verlasse, stolpere ich fast über meinen zweiten Lieblingsort, an dem ich lange verweile: Gleich gegenüber steht eine Bücherbank. Ja, ganz genau: Eine Bank, auf der man nach Lust und Laune sitzen und lesen, sich am offenen Bücherregal bedienen, sogar etwas mitnehmen und ausgelesene Bücher hinstellen darf. Ich liebe solche Orte des Austausches — und hoffe immer, wenn ich offene Bücherregale in einer Stadt finde, einmal einen geheimen Zettel oder einen alten Brief oder ein lange verschwundenes Meisterwerk zu entdecken.
Heute setze ich mich, vergesse die Zeit um mich her, lese Stunde um Stunde in einer zerrupften Ausgabe von „Anna Karenina“ und spende mein ausgelesenes Exemplar von „Die Winterrose“, als ich aufsehe, die Sonne fast untergegangen ist und ich darüber lächle, wie uns Bücher in fremde Welten entführen können.
Mein Spaziergang führt mich weiter hinaus aus der Altstadt und auf den 231 Meter hohen Petersberg. Vor Tausenden von Jahren siedelten hier die ersten Steinzeitmenschen, die Kelten, die Germanen, sie errichteten Kultstätten, Burgen und Stifte. Heute steht die Zitadelle Petersberg, auch bezeichnet als Festung Petersberg, hier oben, eine Stadtfestung aus dem 17. Jahrhundert. Weit mehr als der strategisch sinnvoll angelegte Befestigungsbau begeistert mich aber die Aussicht über Erfurt. Da der Dom mit seiner Gloriosa-Glocke, da das Riesenrad zur Feier der Weihnachtszeit, dort die Altstadt mit ihren Giebeln, unter mir der grüne Berg. Hier oben kann ich frei atmen, mir einen Platz abseits der anderen Menschen suchen, genießen und nichts weiter tun als zu wissen: Alles andere kann warten.Wissenswertes
Das Wahrzeichen von Thüringens Hauptstadt Erfurt sind der Dom und die Severikirche auf dem Domplatz. Wer die 70 Domstufen erklimmt, kann das Innere des Doms besuchen und einen Blick auf die Glocke des Doms, die Gloriosa, werfen. Sie ist die größte freischwingende mittelalterliche Glocke der Welt und wiegt 11.450 Kilogramm. Zum Vergleich: Ein ausgewachsener Elefantenbulle wiegt gerade mal 6.000 Kilogramm.
Im Augustinerkloster von Erfurt kann man sogar übernachten.
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